Psychomentale Belastung am Arbeitsplatz
geht von Arbeitsbedingungen und Arbeitsaufgaben aus

Arbeitsbedingungen: Belastung ist eine Eigenschaft
des Arbeitsplatzes und der Arbeitsaufgabe

Beispiel: In Ihrem Unternehmen stirbt eine Mitarbeiterin vor dem Erreichen ihres fünfzigsten Lebensjahres unerwartet an einem Herzinfarkt. Sie war eine Kauffrau, die an ihre Arbeit mit viel Passion, Verantwortungsbewusstsein und Kompetenz herangegangen war. Ihre Leistungen waren gut. Welche Fragen stellen sich den Vorgesetzten dieser Mitarbeiterin angesichts des plötzlichen Todes?
(A) War Arbeitsüberlastung die Ursache für ihren Tod?
(B) War die Kollegin zu sehr von persönlichen Problemen belastet?
(C) Wurden die Bestimmungen das ganzheitlichen Arbeitsschutzes so weit erfüllt, dass körperliche und psychische Fehlbelastungen als wesentliche Todesursache hinreichend sicher ausgeschlossen werden können?

Die angenmessene (weil sinnvoll beantwortbare) Frage wird selten gestellt. Oft kann sie aber schon deswegen nicht beantwortet werden, weil die vorgeschriebene Dokumentation zur Ermittlung und Beurteilung der vom Arbeitsplatz ausgehenden Risiken einer psychischen Fehlbelastung fehlen, was allerdings schon ein Desinteresse an einer Beantwortung der angemessenen Frage zeigt. Die falschen Fragen werden dagegen häufig gestellt, zum Teil auch nur rhetorisch, um zu zeigen, dass man sie nicht sinnvoll beantworten könne und dass viele mögliche Ursachen für den Tod denkbar seien. Das ist richtig, lenkt aber von der richtigen Frage ab.

Vielleicht fallen Ihnen aber auch noch bessere Frage ein, denn natürlich stellen sich guten Vorgesetzte in solchen Situationen noch anderen Fragen, die sie selbst aufbringen. Ich verrate hier nicht, welche der drei Fragen die angemessenste ist, aber der folgende Text hilft Ihnen vielleicht, die Antwort selbst zu finden.

Im Arbeitsschutz wird nicht nach "auffälligen" Mitarbeitern gefragt, sondern nach auffälligen Arbeitsplätzen. Auffallen kann aber natürlich nur das, was beobachtet wird.

  • Belastung ergibt sich aus den Arbeitsbedingungen. Sie ist eine Eigenschaft des Arbeitsplatzes und der Arbeitsaufgabe.
    In deutschen Arbeitsschutzvorschriften wird nicht von "psychomentalen Belastungen" gesprochen, sondern von "psychischen Belastungen". Beide Begriffe werden in dieser Website verwendet. Beide beziehen sich auf EN ISO 10075, wobei der erste dem Begriff "mental workload" in der englischen Version der Norm näher kommt.
  • Beanspruchung ist das, was Belastung im Menschen bewirkt.
    Mentale Beanspruchung ist definiert als kognitive, eher nicht-emotionale Reaktion des menschlichen Informationsverarbeitungssystems auf äußere Belastungen. Sie wird durch aufgabenspezifische Faktoren wie Schwierigkeit und Komplexität bestimmt. (Sven Ribbak, 2003)
  • Resilienz ist die Beanspruchbarkeit eines Menschen.
  • Fehlbelastungen sind Belastungen, die Schaden anrichten.
  • Verhältnisprävention beugt Fehlbelastungen in einer Weise vor, die den Arbeitsschutzbestimmungen entsprechend an den Arbeitsbedingungen ansetzt. Verhältnisprävention ist eine Pflicht des Arbeitgebers.
  • Verhaltensprävention beugt Fehlbelastungen in einer Weise vor, die z.B. mit einem Employee Assistance Program (EAP) als einer freiwilligen Leistung des Arbeitgebers am Verhalten eines Mitarbeiters ansetzt.

Hier geht es um psychomentale Belastungen, die im Verantwortungsbereich des Unternehmens von den Arbeitsbedingungen und der Arbeitsaufgabe (z.B. auch ein Projekt oder ein Prozess) ausgehen.
Es geht nicht um die Analyse der Resilienz des einzelnen Mitarbeiters oder dessen psychologische Bewertung (siehe auch die geplante EN ISO 10667)
Es geht nicht um Faktoren außerhalb des Verantwortungsbereiches des Unternehmens.

Selbstverständlich spielen individualpsychologische Eigenschaften von Mitarbeitern und vom Arbeitgeber nicht zu beeinflussende Faktoren eine Rolle. Die Resilienz einzelner Mitarbeiter ist aber aus gutem Grund nicht im Fokus der Vorschriften, denn hier hat der Arbeitgeber nur beschränkte Einflussmöglichkeiten. Vorgeschrieben ist die Beurteilung der Arbeitsbedingungen (Arbeitssituationen, Prozesse, Projekte usw.), nicht die Beurteilung einzelner Mitarbeiter.

Sowohl Arbeitgebern wie auch Arbeitnehmern erscheint im Bereich beispielsweise der Analyse von Arbeitsbedingungen (Gefährdungsbeurteilung) noch vieles unklar. Ein Grund dafür ist das unbürokratische und praxisorientierte Konzept der europäischen Arbeitsschutzes: Vorgeschrieben ist wegen der Unterschiede der innerbetrieblichen Situationen nur ein Rahmen, innerhalb dessen in Unternehmen ihren betrieblichen Anforderungen gemäße Umsetzungen des Arbeitsschutzes vereinbart werden müssen. Daraus ergibt sich auch für Arbeitnehmervertreter eine sehr umfassende Aufgabe, denn ihr Gestaltungsspielraum muss mit einer auf den Betrieb abgestimmten Definition und Implementierung von Prozessen ausgefüllt werden. Das führt zu einer Pflicht (BAG, 2004-06-08: Entscheidungen AZ 1 ABR 4/03 (siehe insbes. Punkte 12 und 33) und AZ 1 ABR 13/03) zur Mitbestimmung. Sie müssen dabei aber keine Grundlagen mehr erarbeiten, denn es stehen schon seit einiger Zeit gute Prozesse und Werkzeuge zur Verfügung, mit denen Unternehmensleitungen und Arbeitnehmervertreter zügig ihren arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtungen entsprechen können (Siehe unten, Web-links in der Rubrik "Werkzeuge").


Umsetzung des Arbeitsschutzes: Im Arbeitsschutz sind Arbeitgeber seit 1996 für die Einhaltung der folgenden Schritte verantwortlich:
  1. Gefährdungsbeurteilung: Beurteilung der Belastungen, die von dem Arbeitsplatz und der Arbeitsaufgabe ausgehen
  2. Maßnahmendefinition: Festlegung von Maßnahmen zur Vermeidung von Fehlbelastungen
  3. Umsetzung: Durchführung der Maßnahmen
  4. Kontrolle: Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen

Das ist ein zyklischer Prozess, d.h. nach dem letzten Schritt geht es beim ersten Schritt wieder weiter. Wichtig: Alle Schritte müssen nachvollziehbar dokumentiert werden. Auch die Feststellung, dass kein Risiko einer Fehlbelastung existiere, ist nachvollziehbar festzuhalten.

Von den Aufsichtsbehörden wird mangelhafter Wille der Unternehmen zur Umsetzung des ganzheitlichen Arbeitsschutzes beklagt. Immer noch sehen die Ergebnisse aktueller Forschungsprojekte zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung (Ina Krietsch/ Dr. Thomas Langhoff, Prospektiv GmbH, Dortmund; für BAuA/GRAziL) so aus:

  1. Fehlende Handlungsbereitschaft: Unternehmen greifen ohne die Impulsgebung durch Gewerkschaften, Betriebsräte bzw. Arbeitsschutzbehörden (vereinzelt) das Thema "Psychische Belastungen" als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung (GB) i. d. R. nicht auf.
  2. Geringe Handlungskompetenz: Weder bei betrieblichen noch bei überbetrieblichen Arbeitsschutzakteuren ist in der Breite eine ausreichende Kompetenz zum Umgang mit dem Thema "Psychische Belastungen" vorhanden.
  3. Schwierige Kooperation: Von Betriebsrat, Arbeitgeber und betrieblichen Arbeitsschutzakteuren bei der GB zu psychischen Belastungen bzw. unzureichende Abstimmung der Akteure untereinander.


Wissen: Aufsicht: Beratung: Unternehmen:
Die wirksamste Führung ist Führung durch gutes Beispiel.
  • Uschi Ritzinger, EBV Elektronik, Poing
  • SICK AG: Für das Unternehmen ist die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung zur Erfassung vor allem der psychischen Gefährdungen das wichtigste Instrument im betrieblichen Gesundheitsmanagement.
        Frank Hauser (Great Place to Work® Institute Deutschland) und Friederike Pleuger (SICK AG), Einleitung zum Kapitel 20 im Fehlzeitenreport 2009, Springer 2009: "... Mit gutem Beispiel voran geht die SICK AG, der diesjährige Preisträger des Great Place to Work® Sonderpreises Gesundheit: Die SICK AG verfolgt ein umfassendes Konzept zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM). Als wichtigstes Instrument dient dabei die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung zur Erfassung vor allem der psychischen Gefährdungen. Unter wissenschaftlicher Begleitung wird mit aktiver Beteiligung u. a. von Geschäftsleitung, Betriebsrat und Betriebsärztlichem Dienst ein Instrument zur Erfassung der psychischen Gefährdungen am Arbeitsplatz entwickelt. Nach der Ableitung von Maßnahmen und deren Umsetzung wird der gesamte Prozess durch Wirksamkeitskontrollen evaluiert."
        Der Betriebsrat des SICK AG war hier die treibende Kraft. Bei der SICK AG musste der Betriebsrat anfangs (2001) erst einmal die Einigungsstelle einschalten, um mit einer Betriebsvereinbarung (2004) zu Gefährdungsbeurteilungen usw. die wichtige Voraussetzung zu einem guten Ranking bei "Great Place to Work®" zu schaffen. Im Jahr 2007 folgte eine weitere Betriebsvereinbarung für den ganzheitlichen Arbeitsschutz. Heute kann sich SICK als guter Arbeitgeber präsentieren:
Werkzeuge: Seminare: 2010: Literatur:

 



Amt für Arbeitsschutz, Hamburg, 2009, S. 13: Psychische Belastungen, Handlungskonzept zur Gefährdungsbeurteilung
Gleichgewicht der Verantwortungen: Zusammenarbeit ist auch Teilen von Verantwortung. Beim Thema der psychischen Belastung ist es weder hilfreich, nur der Arbeitgeberseite die Verantwortung zuzuschreiben, noch ist es richtig, vorwiegend die individuellen Mitarbeiter in ihre Eigenverantwortung zu nehmen. Es geht um das Gleichgewicht zwischen beiden Verantwortungen.

Götz Kluge, 2010-06-27
Kontakt: Bitte in psybel.de an den Benutzer gwk schreiben.
Schlüssel: PsyMenBel

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Wir anderen, die wir von der Gesellschaft abhängen, müssen uns nach ihr bilden und richten, ja dürfen eher etwas tun, das ihr zuwider ist, als was ihr lästig wäre; und lästiger ist ihr in der Welt nichts, als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert.
J. W. Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, 1795